Eine Marginalie.
Harald Seubert
Dem Gedenken an R. A. Neuschäfer (I967-2016), Studienfreund und Wegbegleiter
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Geschichtsphilosophie trat, man weiß es, in der neuzeitlichen Ideengeschichte des Westens an die Stelle der Theodizee. Zielsetzungen, vielleicht sogar letzte, sollten dort greifen, wo man den ewigen göttlichen Trost nicht erwarten konnte oder wollte. Die Aufeinanderfolgen unterschiedlicher Reiche, die Legitimation von Mächten als Letztinstanzen: all dies lässt deutlich erkennen, dass das Weltgeschehen nach dem Muster der Heilsgeschichte strukturiert werden sollte. Karl Löwith hat diesen Säkularisierungsvorgang, der vom Alten und Neuen Testament zu Hegel und Marx führt, eindringlich dargelegt. Geschichtsphilosophie ist freilich nicht nur, wie Odo Marquard einmal meinte, die Folge der Theodizee-Problematik, gleichsam die Entlastung und Verlagerung. Sie ist selbst Fortsetzung der Theodizee mit anderen Mitteln. Von einem Gipfel der Betrachtung aus soll das Gewebe und Gewoge der Zeiten in einer zeitlosen kristallinen Klarheit gesehen werden. Man ist „am Ziel“ – oder wähnt sich doch dort.
Jacob Burckhardt hat in seinen durch und durch antihegelischen ‚Weltgeschichtlichen Betrachtungen‘ freilich gezeigt, dass dergleichen Abstraktion innerweltlich gar nicht möglich ist, dass die Pathologie des leidenden Menschen, ausgespannt in die Rollen von Täter und Opfer, soweit man wissen und antizipieren kann, kein Ende finden wird. Deshalb bleibt auf den Schlachtfeldern der Historie die Auflösung aus. „Sinngebung des Sinnlosen“, wie Theodor Lessing das nannte, kann es wohl in der Zeit nicht geben. Der ‚novus ordo saeculorum‘ kann zwar von einem überragenden Herrscher wie Augustus inszeniert werden. Doch dass er Plausibilität erlangt, fordert den Einbruch des Ewigen in die Zeit, wie er vom ankommenden Messias oder vom Glauben an den Mensch gewordenen Gottes Sohn Jesus Christus erhofft wurde. Solche ewigen Verheißungen und ihre beglaubigte Realisierung durchbrechen die Gitternetze des Historischen. Sie widersetzen sich daher auch der politischen Funktionalisierung. Wenn sie mit politischer Konterbande in Verbindung gebracht werden, entstehen wiederum unreine Vermischungen des Transzendenten mit dem Immanenten. Dies ist immer und je schon, ein Elend.
Nach den großen totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts gerieten die geschichtsphilosophischen Kathedralbauten zu Recht in Verdacht, letztlich ins Inhumane zu münden, wenn sie denn realisiert werden. Wie berechtigt auch Heinrich Heines Evokation: „Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten“ gewesen sein mag, den Kommentar schrieb zwei Weltkatastrophen später Karl Popper: Wer den Himmel auf Erden errichten wolle, der errichte faktisch wohl Höllen. Einer der bedeutendsten und umsichtigsten Denker und Ästheten des 20. Jahrhunderts Paul Valéry, träumte, wie man weiß, von der mediterranen Existenz, die unberührt von den geschichtlichen Brocken dem Schmetterlingsflügel im Hic et nunc gewidmet ist.
In den blutigen Konflikten der Gegenwart, dem verfälschten politischen Islamismus der aus Failed States ausbrechenden Terroristen werden Abkürzungen zum Geschichtsziel genommen. Nicht das geschichtsphilosophische Telos, sondern die Weltherrschaft, die man möglichst umgehend zu erringen beansprucht, tritt dabei in den Fokus. Hitlers widerwärtiger Begriff des „Endsiegs“ und die rasche Katapultierung ins Paradies durch Selbstmordattentate symbolisieren je spezifisch, diesen Abgrund der Vereinnahmung der letzten Ziele für allzu diesseitiges.
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Ist aber damit das Anliegen der Geschichtsphilosophie grundlegend desavouiert? Wenn es nicht in die Hybris der innerweltlichen Realisierungen gezwungen werden soll, scheint die Frage nach kontrafaktischen Dimensionen des Realen, nach einer Möglichkeitsgeschichte, überaus fruchtbar und wirksam. „Ans Meer begnadigt“ nämlich, wie Valéry wollte und wie Ingeborg Bachmann in ihrem Böhmen-Gedicht schrieb, werden wir nicht so leicht. Wir müssen in der Geschichte standhalten- zunehmend in einer, die mit vehementem, regelrecht bösartigen Furor sich der Rationalität und den Optionen entzieht, aus der Geschichte etwas zu lernen. Vielmehr wird Vergangenes, werden große Traditionen durch Feinderklärung vernichtet. Individualität ausgelöscht- in den Völkermorden, die auch 60 Jahre nach Ende der Hitlerschen Schreckensherrschaft immer wieder aufbrennen, bleibt nicht einmal ein Golgatha der Individuen, wird die Vernichtung im buchstäblichen Sinn das einzige politische Ziel, das gesetzt werden soll.
iii.
Angesichts dessen sind die drei Topoi geschichtsphilosophischer Rationalität zu verstehen, die ich ins Gedächtnis rufen möchte:
iii.1
Kant sprach von den ‚Geschichtszeichen‘, einzigartigen geschichtlichen Figurationen, wie er sie etwa in der französischen Revolution zu erkennen meinte, in denen ein künftiger, wünschenswerter Gang der Weltentwicklung sich abzeichne, ein Gang zu Vernünftigkeit, Kosmopolitismus, ja zu einem ewigen Frieden. Dies heißt nicht, dass damit ein Gesetz der Geschichte entdeckt würde, nach dem sie erklärbar sei. Gäbe es dergleichen, so wäre ohnehin die Freiheit von Denken und Handeln unterlaufen, sie unterläge einem gewalttätigen Strom. Handeln in Freiheit wäre im Grunde gar nicht möglich. Hegel modulierte dies zur Rede vom ‚Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit‘. Mag das Bewusstsein auch noch längst nicht die Realität sein: Wenn es nicht existierte, wenn das Plateau einer künftigen humaneren Welt nicht gegeben wäre, könnte nur die Verzweiflung das Echo sein. Bei allem Ungenügen und mancher höchst kritischen Fehlstellung in der Weltgeschichte des letzten halben Jahrhunderts, ist denen, die das europäische Einungsprojekt und den Weltstaat verteufeln, die Schützengrabenmentaltiät vor Augen zu führen, die Schreckensgeschichte vergangener Zeitläufte und sie sind zu fragen, ob sie das Weltalter des Nationalismus mit all seinen Epiphänomenen wieder zurückhaben wollten.
Der Kantische Traum und seine einzelnen Sequenzen sollten daher durchaus Verbindlichkeit behalten. Freilich muss auch die Eingrenzung gesehen werden: Zum ewigen Heil führt dergleichen nicht. Das religiöse Pathos der großen Revolutionen ist nicht gedeckt. In der kleineren Münze wird aber jede Religion, die dem Humanum folgt, sich darüber verständigen können müssen, dass es gut ist, wenn menschliches Leben human und in Nutzung der begrenzten Ressourcen sich vollzieht, wenn Kriege gemieden und friedliche Koexistenzen gewahrt bleiben können. [1]
iii.2
Philosophisch noch wesentlicher ist der andere Zug: Wir verstehen vergangene Zeiten nur, wenn wir mit in Betracht ziehen, welche Zukunftserwartungen und –horizonte die Menschen in jener Zeit hatten. Diese Semantiken, die Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft, die der Geschichtsdenker Reinhard Koselleck immer wieder reflektierte, muss man bedenken. Denn oft ist das, aus verständlichen oder weniger verständlichen, guten oder weniger guten Gründen Geplante und Intendierte eben nicht realisiert worden. Es konnte es nicht, was die Akteure aber unmittelbar nicht zu sehen vermochten. Oder es wurde in einer Weise realisiert, die zugleich eine massive Verfälschung bedeutet.
Man kennt dies auch aus dem persönlichen Leben: Die Wünsche, die man für ein Kind hegt, mögen soweit reichen, dass man in ihm einen ‚neuen‘, einen gänzlich anderen Menschen erwartet und erhofft. Ingeborg Bachmann hat dies in ihrer Erzählung „Alles“ bewegend evoziert – und ebenso das tragische Scheitern.
Auch eine große Liebe, deren Einzigkeit man erkennt (apriori und plötzlich exaiphès: wie die Griechen sagten) , von deren Unterschiedenheit gegenüber allem, was man erlebt hat, untrüglich getroffen und gewiss ist – dergleichen gibt es, wenn auch vielleicht nur einmal im Leben,- gerade eine solche Liebe kann aus verschiedenen Ursachen unlebbar sein. Dies ist schmerzlich, zerreißend. Ein ganzer Lebenshorizont, der sich aufspannte, kann sich verschieben und verändern müssen. Glücklich ist, wer dem standhält und die Möglichkeitsgeschichte verwandeln kann, ohne zu zerbrechen. In ähnlicher Weise können auch geschichtliche Akteure vor die Herausforderung eines gebrochenen Zukunftshorizonts geführt werden. Sie können dem standhalten, oder es verfehlen. Dies ist noch nicht amorphe Esoterik. Erforderlich ist freilich mehr als Pragmatismus. Die geschichtlichen Verwerfungen kehren wieder und beeinflussen und durchkreuzen die Gegenwart.
iii.3
Geschichtliche Ziele können niemals die letzten Orientierungen sein. Sie sind vom religiösen Menschen in eine Ewigkeitsperspektive zu transzendieren. Der Agnostiker und Säkulare wird es aushalten müssen, dass immer ein Sinndefizit bleibt, dass Dissonanzen das letzte Wort haben. Der jüdisch-messianische, in der Theoriebildung zwischen Benjamin und Adorno vielfach wiederkehrende Satz, man könne die Geschichte nicht anders als vom Blickpunkt der Erlösung her betrachten, erinnert an diese Grenzen und führt zugleich über sie hinaus. Er mag helfen, dass die Toten und Erschlagenen nicht vergessen werden, sondern ein Gedächtnis bleibt.
Der christliche Glaube, dass der König der Welt arm und elend kam, dass er seiner königlichen Würde entsagte, steht in der Fortsetzung dieser Linie. Man muss ihn nicht teilen, den Advent nicht hossiana singend begrüßen. Wohl aber ist er fruchtbar, um sich zu vergewissern, dass das Heil der Welt nicht aus den Palästen und auch nicht aus dem Krieg gegen die Paläste kommt, nicht aus religiösen oder sonstigen Fanatismen, sondern aus dem Frieden, der Sehnsuchtsort ist und „anderer Zustand“.
[1] Sehr treffend im Blick auf die nahöstliche Konstellation A. Isaacs, A Prophetic Peace. Judaism, Religion, and Politics. Bloomington 2011.