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Das Jahr 2016 war im Inneren des Landes, und in den verschiedenen europäischen Gesellschaften durch eine erschreckende Aufheizung des Klimas bestimmt. Es brachte auch Ressentiments und alte Menetekel wieder auf die Tagesordnung. Vom „Ernstfall“ war die Rede, fast triumphierend, und als Gegengift zu einer verharmlosenden öffentlichen Meinung, die lange wie unter der Glasglocke des Nichtwissens befangen blieb. Doch wem das eine nicht schmeckte, kann das andere erst recht nicht gefallen. Es geht gar nicht einmal darum, sich gegen die Hauptgewichte mal stärker nach rechts, mal stärker nach links aus dem Kahn zu lehnen: ein schönes Bild, das Thomas Mann einmal für seine politische Haltung brauchte.
Es wird vielmehr darum gehen, ernste und bedrohliche Szenarien human und in Gelassenheit zu bestehen. Man sollte sagen können, was einen ausmacht, was man liebt, was unverwechselbar ist. Würdigkeiten und Wertigkeiten muss man benennen können, eine Ordnung der Güter finden, die im Mittelalter nicht ohne Grund ‚Ordo amoris‘ hieß: Die Ordnung dessen, das man liebt und begründet lieben kann. Ohne diese rational und willentlich tiefreichende Kraft bleibt die Berufung auf ‚Werte‘ hohl.
Nur wenn man ein Absolutum kennt, oder einige Absoluta, die nicht zur Erwägung stehen, kann man sich im Streit der Positionen orientieren. Sie zu kennen und über alles zu lieben, verhindert gerade nicht Pluralität und Toleranz: Sie sind aber perspektiviert und haben ein emitte. Dazu helfen uns keine Algorithmen. Diese Werthierarchie unterliegt auch nicht der Dekonstruktion. Sie machen uns aus, der Umfang mit ihnen erfordert Urteilskraft und moral sense.
Schon Augustinus wusste auch: Wo der Ordo amoris in Unordnung ist, Mittel für Zwecke und Zwecke für Mittel erklärt werden, liegt eine Perversion vor, die man klassisch als ‚Sünde‘ umschrieben hat. Auch in säkularisierter Lesart hat das Plausibilität: Wer Vorletztes oder gar Hinterletztes, wo gar Negatives wie Ressentiment und Hass, zum Ersten und Wesentlichen erklärt, und dies seiner Mitwelt aufdrängt, zerstört Humanum und Freiheit.
Emmanuel Carrères Diktum, man habe allzu lang jede These und Auffassung mit einer Art ironischem Grinsen vertreten, so als meine man es doch letztlich nicht ernst, als sei alles mit einer ironisch zynischen Patina zu überziehen und man müsse für nichts einstehen, konnte die Szenerien der ausgedehnten Postmoderne trefflich bezeichnen. Doch eine solche Haltung reicht nicht aus, wenn die Zeiten gefährdet sind.
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Er ist angesichts einer weltpolitischen Sicherheitslage, in der alles möglich scheint und in der zunehmend unberechenbare Akteure handeln, unabdingbar erforderlich, Position zu beziehen. Nicht dogmatisch, petrifiziert, verhärtet –, sondern gesprächsfähig und dem dialogischen Verstehen des Anderen geöffnet, gleichwohl aber so, dass man dabei zur Kenntlichkeit kommt. Dass der Terror in seinen vielen diabolischen Masken in der Mitte Europas und inzwischen der deutschen Gesellschaft angekommen ist, ist schmerzlich aber nicht verwunderlich.
In der Einen Welt, so wie sie sich heute darstellt, könnte die Sicherheitslage von Israel paradigmatischer für Nationen wertgebundener Freiheit sein als die bisherige Ruhelage in der Mitte Europas.
Wir analysieren weltpolitische Verhältnisse in der Regel in zwei Rastern, die beide binnen weniger Jahre Makulatur geworden sind: (1) im Sinn von wechselnden Bündnis- und Sicherheitskonstellationen, die sich nach dem mehr oder minder wohlverstandenen Eigeninteresse von Nationen oder größeren Blöcken richten. Dies ist das Raster des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, das vom feingesponnenen sicherheitspolitischen Gewebe zu einer immer gröberen Text wurde, bis es von den Diktatoren und Tyrannen vereinnahmt wurde. (2) im Sinn eines Universalismus, als wäre er schon da oder als wäre seine Durchsetzung nur eine Frage der Zeit. Wir sehen uns heute in der Erwartung einer umfassenden weltweiten Demokratisierung getäuscht. Diktaturen oder autoritative Systeme erleben erschreckende Renaissancen. Nach dem Ersten Weltkrieg imaginierten große Philosophen wie Max Scheler sich ein ‚Weltalter des Ausgleichs‘. Zeitgleich wurden die trüben Ideologien gekocht, deren Realisierung Europa in den Abgrund trieb. Es ist nicht ganz zufällig, dass in der Diagnose der Gegenwart Analogien zu solchen Krisenzeiten evoziert werden.
Man kann, angesichts der Kataklysmen der letzten Jahre, übrigens auch des erschreckend umfassenden Scheiterns von Vorhersagen und Prognosen nur schwer sagen, wie sich die weltpolitischen Tektoniken bewegen werden. Sagen kann man, dass weder die Remeduren des 19. noch die des 20. Jahrhunderts ausreichend sein dürften.
Allianzen zwischen großen Mächten und Verbrecherorganisationen, die wie aus dem Off geschossen kommen, deren Genese aber eine für den Westen oft schändliche, rational rekonstruierbare Vorgeschichte hat, werden denkbar. Wohl kann einem dabei nicht sein, und niemand sollte behaupten, es immer schon gewusst zu haben.
Angesichts dieser weltpolitischen Irritationen scheint mir die Verbindung von klarer Positionierung des eigenen Ordo amoris, der eigenen Kenntlichkeit in dialogischem Offensein und im vorgreifenden Blick auf jenes Ideal der einmal geeinten Menschheit eigentlich wesentlich zu sein. Martin Buber sprach in einem denkwürdigen Dialog mit einem evangelischen Theologen im Januar 1933, ehe die Lichter ausgingen, davon, die Juden sollten jüdischer, die Christen christlicher werden, was auf andere Herkunftsreligionen und – kulturen zu übertragen ist.
Überzeugungen und wesentliche Ziele sind umso bewegender je mehr sie bezeugt werden und sich auch in ihrer Verletzlichkeit zu erkennen geben. Der große Meister des Dialogischen entwickelte eine diskursiv geöffnete Vertiefung von Kenntlichkeiten, die nicht auszutauschen sind, die sich aber berühren können – als, wenngleich ohnmächtige, Gegenkraft gegen die nihilistischen Mächte, die aufziehen.
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Gerade von den Stimmen und Fähigkeiten, die die Welt schöner machen, Kunst, Philosophie, Wissenschaft her tendiert man völlig zu Recht zu Unabhängigkeit. Diese Kräfte und Diskurse sollten gerade nicht in Parteilichkeiten und Dogmen aufgehen. Dieses Anliegen ist nur allzu berechtigt. Denn nur durch den überparteilichen Blick können sie die Grenzen öffnen, eine Weite der „geeinten Menschheit“ herstellen, die alles andere als naive Utopie von „Gutmenschen“ ist. Doch man sollte heute auch wissen, dass in bedrohteren, fragil gewordenen Zeiten nichts selbstverständlich ist. Gerade die Freiheit ist es nicht.
Gerade deshalb schließen sich Positionierung und freier Geist nicht aus. Sie fordern vielmehr einander.