Der neue Bundesaußenminister Gabriel absolviert seinen Antrittsbesuch in Israel, am Gedenktag der Befreiung von Auschwitz, er besucht Jad Vashem und beharrt darauf, wenig später zwei Nichtregierungsorganisationen zu treffen, die aus dem Ausland finanziert werden und soweit gehen, israelische Soldaten notorisch als Kriegsverbrecher zu bezeichnen. Man mag Aspekte der israelischen Siedlungspolitik kritisch sehen,- in einer Weltlage, in der die einzige Demokratie des Nahen Ostens nach wie vor in singulärer Weise bedroht ist, in der aber auch in der Mitte Europas der Antisemitismus aus unterschiedlichen Quellen sich wieder formiert, ist eine solche Haltung politisch instinktlos und moralisch zutiefst fragwürdig.
Dies ist sie umso mehr als die antisemitischen Irrlichter und Signale aus verschiedenen Richtungen kommen: Einmal von den neuen rechten Parteien zwischen Ungarn, Polen, Deutschland und Frankreich, deren Koblenzer Zusammenschluss eine unheimliche Gegenfolie zu einem vereinten Europa bezeichnete. Der kleinste gemeinsame Nenner von Nationalisten, deren jeweilige nationale Imperative als die einzigen Kategorischen Imperative, die sie kennen, immanente Konflikte auslösen müssen, ist ein antisemitischer Grundton, mehr oder minder an der Oberfläche. In der neuen polnischen Regierung und bedauerlicherweise auch in polnischen Funktionseliten ist dieser Akzent kaum verdeckt präsent. Ein neuer rigider Antisemitismus geht aber auch von Migranten aus, in deren Erziehungs-DNA von früh an ein aktiver Israel-Hass imprägniert ist, und die erst allmählich, nicht zuletzt durch das Engagement jüdischer und christlicher Gruppen in den Auffanglagern, eines anderen belehrt werden mögen: im Sinn einer Abrüstung durch Verständigung.
Nichts sei niemandem unterstellt. Schon gar nicht dem deutschen Außenminister, der mit einer nicht eben werbewirksamen inneren Reflexionskraft die NS-Vergangenheit seines Vaters offen thematisierte und seinen Furor klar machte, der als ‚Cunctator‘ und Mensch im Widerspruch zu den sympathischen Exponenten der politischen Elite gehört: Doch der klammheimliche, offene aber nach Henryk Broders Diktum ewige Antisemitismus ist nach wie vor, unterschiedlich motiviert, höchst virulent: sie reicht von linken und linksklerikalen Grand Palestine-Träumen bis zu Verschwörungstheorien rechtsextremistischer Provenienz, eine Dimension, die niemals ignoriert werden darf: weder im äußerlich diplomatischen Handeln, noch in der inneren Praxis des Umgangs mit Israel.
Wenn man den Trauertag inmitten dieser hochgradig angespannten Weltlage und die Aporetik, dass Israels Sicherheit garantiert wird, in Rechnung stellt, erweist sich Gabriels Verhalten faktisch als wenig nachvollziehbar. Mit Diplomatie hat es nichts gemein, wenn er ein Telefonat mit Netanjahu ablehnt und wie ein Kind im Trotzalter nachhakt: „Ich habe nicht eskaliert!“. Doch nicht nur um Politik geht es, sondern um eine zentrale Raison d’être europäischer und in ihr deutscher Staatlichkeit. Dass sie ist und sein kann, ist nach der Shoah keineswegs selbstverständlich. Eben deshalb ist es, wie schon der großer konservative Publizist der Mitte, Axel Caesar Springer wusste, an Überleben und Sicherheit Israels gebunden. Netanjahus Grundsatz, mit niemandem zu sprechen, der die Deligitimatoren Israels zuerst ins Gespräch zieht, ist verstehbar und rational. Es geht dabei nicht um die Verweigerung der Kritik: Sie kann und muss stattfinden, doch eben nur in dem Maß, in dem die Legitimität und die Hochachtung vor einer Armee und einer Sicherheitslage, in der es ständig ernst ist, ihrerseits außer Frage steht. Nicht zuletzt sollte deutsche Außenpolitik auch die jüdische Community im Land vor Augen haben, unter der, aus keineswegs chimärischen Gründen, die Tendenz zur Emigration stärker wird. Ignatz Bubis war am Ende seines Lebens zutiefst enttäuscht und resigniert, er ließ sich in Israel begraben. Das Fazit seiner letzten Wochen war, nichts erreicht zu haben. Kann man solche Zweifel und Verzweiflungen leicht von der Hand weisen?
Dass der Gabriel-Vorfall unter der deutschen Politik-Riege ein vielfaches Murmeln zur Folge hat, Treffen mit NGO’s seien sogar in China möglich, aber nicht in Israel, dass dem Außenminister so vielfache Zustimmung und menschrechtliche Überhöhung widerfährt, ist ein unfreundlicher Akt und ein beunruhigendes Indiz. Man kann nur hoffen, dass sich diese Tendenz nicht weiter Bahn bricht. Die langjährigen hochdotierten Waffenverträge mit Saudi Arabien und anderen Israels Sicherheit bedrohenden Exponenten in der Region lassen ohnedies das Staatsraisons-Bekenntnis oftmals zur zynischen Farce verkommen. Und, in Parenthese gesagt, wenn es mit den Waffenlieferungen in die wahabitische theokratische Monarchie nun ein Ende hat, so ist dies nicht Ergebnis einer konsequenteren deutschen Politik, sondern des wachsenden saudischen Misstrauens, kompensiert durch die Ausbildung saudischer Sicherheitskräfte an der Spree.
Der von Adorno formulierte materiale kategorische Imperativ, dass Auschwitz nie sich wiederhole, hat auch politische Implikationen. Sie schließen Auseinandersetzung nicht aus, wohl aber Instinktlosigkeit und einen Auftritt – so nannte der Historiker Gregor Schöllgen einmal das Procedere des vereinten Deutschland auf der Weltbühne, der Maß, Ziel und Grenze nicht kennt. Wem diese „Huldigung der Politik vor der Moral“ (Kant) zu weit geht, der mag mit etwas politischem Verstand hochrechnen, dass die prekäre Sicherheitslage Israels nichts Exotisches ist, sondern der voraussichtlichen Zukunft europäischer Staaten entspricht. Auch solche Isomorphien der Bedrohung lehren Solidarität.