Die Störungen im Gemeinwesen, reale oder gedachte Krisen, bringen Fanatismus hervor. Sie sind immer unschön. Brecht hat es treffend gesagt: „….auch der Hass über die Niedrigkeit verzerrt die Züge.“ Wie erst der Hass über das Ambivalente, schwer oder nur mit gravierenden Nebenwirkungen zu Ändernde. Fernsehnachrichten und Internetlivestreams liefern die Physiognomie des Fanatismus längst wieder frei Haus, und man kann sich angesichts dessen wie in Breughelschen Bestiarien fühlen. Eine Demokratie lebt weder aus dem Verschweigen, und der „Alternativlosigkeit“, die politische Rationalität an das freie Spiel von Algorithmen delegiert. Noch lebt sie aus Hassorgien und der den Reprisen des vermeintlich Besseren, ‚Älteren, Originären.
Leidenschaft und Fanatismus sind zu unterscheiden. Letztere ermöglicht noch Abstand, Klugheit (phronesis), Distanz zu sich selbst. Ersterer ist ganz von seinen Belangen aufgefressen. Dies wird zerstörerisch, wenn bestimmte politische Auffassungen oder Verschwörungstheorien ein Weltbild bestimmen. Heute kann man sich damit problemloser versorgen denn je zuvor. Das Netz und seine Algorithmen-Logik ermöglichen es jedermann, sich nur aus den Kanälen zu informieren, die die eigene Denkweise weiter affirmieren.
Es kann aber auch einen Fanatismus der Moralität geben, eines Gutseins um jeden Preis und ohne zu erkennen, wie ambivalent menschliches Handeln zwischen Gutem und Schlechtem ist, wie Nebenwirkungen jede Maxime und erst recht die daraus resultierende Handlungsweise flankieren. Zu Recht wird angesichts der neueren, mehr oder minder greifbaren, Hass-Orgien bemerkt, dass solche Haltungen nicht rechtsstaatlich zu verbieten seien. Ihnen antwortet dann ein nicht weniger verbiestertes Antlitz des guten Menschen, dem auch alles, was er denkt, Haupt- und Staatsaktion wird. Diese Haltung ist es aber, so Hegel in seiner Analyse der Französischen Revolution in seiner ‚Phänomenologie des Geistes‘, die den Einzelnen zunichte werden lässt und auch seinen Tod wie das Abschlagen eines Kohlhaupts oder einen Schluck Wassers werden lässt. Doch auch der Fanatismus im Namen von Religion und Gottes Eifer ist nicht besser erträglich und nicht verträglicher. Verwechselt er doch seine Imaginationen und Selbsterhaltungsvisionen mit der Transzendenz des Ewigen.
Vor dem Fanatismus bewahrt zweierlei: Der Blick in die Schreck-gestalten, die er in der Geschichte ausgelöst hat. Ein „Golgatha der Individuen“, einen Knochen- und Leichenberg, der immer weiter wächst, so dass man nur innehalten und gedenken kann. Walter Benjamin sprach in seiner ‚IX. Geschichtsphilosophischen These‘ (1940) vom Eingedenken des Engels der Geschichte, des an einer Darstellung von Paul Klee orientierten „Angelus novus“, der das Zerschlagene wieder zusammenführt und die getöteten Gebeine hegt.
Um den Fanatismus auf dieser Ebene zu vermeiden, ist ein meta-politischer Blick erforderlich, ein Blick, der über die politischen Fronten und Linien hinaus- und über sie hinwegsehen lässt. Es gibt freilich im Zeichen des Fanatismus ein Verständnis von „Metapolitik“, das alles, auch das, was eigentlich nicht politisch imprägniert sein sollte, ins politische Fahrwasser hineinzieht und damit alle anderen Fische totbeißt: eine Dimension von Barbarei, vor der man sich hüten soll.
Zum anderen ist es die „humbleness“: eine grundlegende Demut menschlichen Seins gegenüber Ideen und Ideologien, die den Fanatiker desavouiert. Wir altern, sterben und vergehen, wir freuen uns und blühen: in unserer Zeit – bedingt und doch zum Unbedingten befähigt. Ideologeme dagegen beanspruchen inmitten eines undurchschauten Werdens und Vergehens eine körperlose Unendlichkeit. Es ist der schuldig-unschuldige Mensch, disponiert Opfer und Täter zu sein, der uns so angeht. Hinter den hochtrabenden Ansprüchen des Ideals einer geeinten Menschheit geht er uns an wie wir uns angehen. Die talmudische Weisheit, säkularer wie religiöser Lesart zugänglich, dass wer einen Menschen rette, so die Welt rettet, kann ein Heilmittel gegen die fanatischen Züge sein, die uns nicht nur aus Bildern vom Gaza-Streifen und von tief gezeichneten Krisenregionen, sondern mitten in Europa wieder begegnen.
„…es wechseln die Zeiten“- zu jener Humbleness gehört auch, sich, u.a. im Anschluss an Überlegungen des Geschichtstheoretikers und Historikers Reinhard Koselleck zu vergegenwärtigen, dass eine Vergangenheit immer ihre Zukunftsimaginationen hat, die aber nur zum Teil eintreffen. So auch die unseren. Dies ist das politisch-pragmatische ‚memento mori‘, das höchst nützlich sein kann.