Dass Deutschland durch viele Wochen keine Regierung hat, ist fast ein antipolitisches Signal. In dem Sinn von Antipolitik als heiterer Anarchie, wie ihn die ost-mitteleuropäischen Dissidenten um György Konrad definierten. Die heitere Seite bedeutet einen Hauch von kakanischer Pflichtverweigerung und damit eine Normalität, die man Deutschland in der Mitte Europas kaum zutrauen würde. Man kann auf Szenarien in der Art des braven Soldaten Schwejk kommen: Wie wäre es, wenn die Legislaturperiode vergangen wäre und eine Regierung wäre nicht konstituiert worden.
Dass sich die Anwärter eher zieren und winden, eine Regierung zu bilden, dass es so scheinen könne, als sei diese Erwartung ein ‚personal insult‘, dass man einander müde ist, wie in dem schönen Chanson von Stefan Waggershausen und Viktor Lazlo, ist ein gegenläufiges, durchaus unerfreuliches Signal. Vielleicht zeichnet sich nun im allgemeinen Bewusstsein ab, dass Große Koalitionen der Ausnahme vorbehalten sein können, nicht aber die Regel beschreiben sollten. Denn die Welt steht keineswegs still. ‚Demokraturen‘ und schleichende Tyranneis bestimmen vielerorts und in zunehmendem Maß die Weltagenda. Den innovativen französischen Europakonzepten, die zeigen, dass Stabilität nicht bleiernen Stillstand bedeuten muss, antwortet keine deutsche Stimme.
Die Zäsur dieser regierungslosen Zeit ist vielleicht tiefer als man ahnt. Es mag sein, dass eine lange, vielleicht in ihrer Unaufgeregtheit und „ruhigen Hand“, ihrer Konsensualität irgendwie auch bedeutende Kanzlerschaft in die Abenddämmerung eintritt. Endet damit aber nur ein Politikstil, dessen man müde wird, wie anderer Stile auch oder kommt ein Paradigma von Politik selbst an seine Grenzen, das primär durch Pragmatik und abstrakte Modellbildungen bestimmt ist?
Die Zentrifugalkräfte sind stark, in Europa, aber auch im eigenen Land. Es gibt eine gärende Unzufriedenheit, die in Rancune und Destruktion umschägt. Die Kunst wird sein, klare, auch des Dissenses und der Differenz fähige Debatten zu führen über das, was bewegend ist. Konsens sollte aber nicht mit Schweigen verwechselt werden, Normalität nicht mit Langeweile.
Wenn eine Regierung fehlt, schlägt die Stunde des Parlaments oder auch der Bürgerschaften selbst, um dieses freie Mandat wahrzunehmen. Insofern bieten kaiserlose Zeiten durchaus Chancen: Die erstarrten pyramidalen Denkmuster zwischen „denen da oben“ und „uns da unten“ müssen und können aufgebrochen werden. Die Wechselseitigkeit zwischen Regieren und Regiertwerden, die republikanische Lebensform, kann wieder sichtbar werden. Gegenüber den Trollen im neuen Parlament hilft das stärkere Argument, die durchdachte Konzeption, die Fähigkeit zur Selbstüberprüfung.- Deshalb sollte der Ton im neuen Parlament nicht so sehr„rauer“ werden, man sollte den Ungebildeten unter den Verächtern des Parlamentarismus die Definitionsmacht überlassen; er sollte vor allem argumentativer und entschiedener werden.
Europa bedarf der Vielstimmigkeit und der klaren Grenzen, die überall dort, wo Menschenwürde und wechselseitige Achtung bewusst zerstört werden, einen harten Trennungsstrich erfordern; die aber ansonsten vielmehr Streit, Leidenschaft Offenheit erfordern.
Die bis in die Gesichtszüge hinein ausgeprägte verschleißhafte Müdigkeit der Protagonisten zeigt auch, dass es eine Magna Charta Europas erforderlich ist, die dort greift, wo der pure Pragmatismus und die Technokratie nicht hinreichen können. Erfordert ist eine nüchterne Vision, die Europa Kultur, Philosophie und Religionen versteht: Einen Frieden in den Blick nimmt, der mehr ist als nur Waffenstillstand, ein menschliches Bewusstsein, das auf der digitalen Welle reitet, ohne von ihr versklavt zu werden.
Dies wäre des bürgerlichen Engagements wert.