Dieter Henrich, 1927 geboren, legte vor 52 Jahren eine Abhandlung vor, die für sein eigenes Oeuvre den Charakter einer Initialzündung haben sollte: „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, zunächst in der Festschrift für Wolfgang Cramer, dann eigenständig publiziert.
Dieser Aufsatz eröffnete neue Perspektiven.
Henrich entdeckt darin nämlich die Unhintergehbarkeit der 1. Person-Perspektive für die Weltorientierung wieder. Er zeigt, dass das Ich Reflexion seiner selbst ist, dass es sich selbst setzt – als sich setzend. In einer späten Tagebuchnotiz bezeichnet es Fichte überdies als Kraft, der ein Auge eingesetzt ist.
Nach 1945 in einem von Hermeneutik, logischen Positivismus und Existenzphilosophie geprägten akademischen Rayon war die Einsicht in das Grundphänomen des Ich durchaus nicht selbstverständlich. Die angelsächsische, sprachanalytisch geprägte Philosophie ging der Subjektivität ebenfalls lange aus dem Weg. Die 1. Person singular-Perspektive schien zunächst ein Spezialfall der 3. Person zu sein. Doch was war dann mit Verantwortung, mit Selbstempfinden, Identität und Individualität? Nach und nach wurde auch die analytische Philosophie auf die Unhintergehbarkeit der Subjektivität gestoßen.
Später entwickelte Henrich eine differenzierte Konzeption des Subjektes, die sich auf den zentralen Topos des „unmittelbaren Vertrautseins mit sich selbst“ bringen lässt. Seine großen genealogischen Rekonstruktionen klassischer deutscher Philosophie (Hegels und Fichtes) gingen jener „Grundlegung aus dem Ich“ weiter nach. Bei Hölderlin war auf einen „Grund im Bewusstsein“ zu stoßen, bis sich Henrich 2016 der Konfrontation von Sein und Nichts annahm.
Nun kehrt Henrich zu der frühen Abhandlung zurück. Er geht den vielfachen Pfaden jenes Ich nach, das nach einer Sentenz von Jean Paul, dem Anti-Fichteaner, so viel bedeutet. Assoziierende, meditierende und logisch höchst präzise begriffliche Annäherungen an die Unhintergehbarkeit der Subjektivität wechseln einander in faszinierender Mehrstimmigkeit ab.
Henrich verdeutlicht auch, wie von Fichte her Subjektivität zum Ausgangspunkt für die philosophische Systemarchitektur werden konnte und wie die Frage nach dem Ich zugleich der Ansatzpunkt der Suche nach dem „Grund im Bewusstsein“, der Gottesfrage, ist. Die Verbindung von luzider Argumentationsanalyse und der Tiefenperspektive philosophischer Fragebewegung sollte exemplarisch sein.
Husserl hat auf einer Denklinie, die Henrich nur am Rande streift, das Ich als „Residuum angesichts der Weltvernichtung“ verstanden. Henrichs eleganter Traktat bestätigt dies: das Humanum beginnt mit dem vorreflexiven unmittelbaren Vertrautsein. Kein Holismus, in dem das Ich-Phänomen nicht entscheidend mitgedacht ist, dürfte den Ansprüchen des Humanum genügen.
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